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Milowit Kuninski

 

Spontane Historiosophie und der Fall des Kommunismus [1]

 

         Das Ungebärdige und Ungewöhnliche an gesellschaftlichen und politischen Veränderungen regt große Geister ebenso wie die einfache Menschen zu historiosophischen Reflexionen an. Das wissenschaftliche Denken stützt sich dabei auf ein modernes begriffliches Instrumentarium und auf eine Vielzahl von früher entstandenen Interpretationen gesellschaftlicher und zivilisatorischer Prozesse; das untheoretische Gedächtnis der Gesellschaft bezieht sich hingegen auf die Erfahrungen einer oder zweier Generationen, aber auch auf Stereotype, Mythen und mythische Geschichtsvisionen, auf Splitter aus Literatur, Philosophie und Wissenschaft. Trotz aller Unterschiede zwingt die Außergewöhnlichkeit der beobachteten Ereignisse, an denen die Beobachter schließlich selbst beteiligt sind, zu fieberhaften Reaktionen in beiden Fällen. Ihr Motiv ist das Streben, die Ereignisse und Prozesse zu durchschauen, die die bisherige, relativ beständige gesellschaftliche, politische und zivilisatorische Ordnung stören und das fundierte und klare Bild trüben, das wir uns von ihr gemacht haben.

         Die plötzliche große Veränderung wird als ein Chaos erlebt, das von neuem intellektuell geordnet und gefühlsmäßig angenommen werden muß und dem man letztendlich in der Wirklichkeit wieder Gestalt geben muß. Man darf sich also nicht wundern, wenn die Menschen nach Übereinstimmungen und Analogien mit Ereignissen und Umbrüchen der Vergangenheit suchen, gerade so, als wären sie von der fundamentalen Trifftigkeit der  epistemologischen und methodologischen Formel des Empedokles überzeugt, nämlich, daß das Ähnliche nur durch das Ähnliche erkannt werden kann. Im Bereich des theoretischen Denkens und der historiosophischen Reflexion treten hier Umstände hervor, die - wie es Thomas Kuhn ausdrücken würde - die Anfänge eines Paradigmenwechsels begleiten, gerade in dem Moment, da das Paradigma noch nicht fertig ausgestaltet ist: es treten Tatsachen zutage, die sich in die bisherige Begriffs- und Aussagenstruktur nicht einpassen, es werden neue Begriffe gesucht und neue Hypothesen formuliert, und zwar hauptsächlich durch die Anwendung schon existenter Begriffe und Theorien.

         So kann der Fall des Kommunismus einerseits - wie bei Francis Fukujama - angesehen werden als unausweichliches Resultat des zivilisatorischen Fortschritts, der historischen Tendenz, daß sich Gesellschaften von liberal-demokratischem Typ durchsetzen, als der Triumph von Vernunft, Recht, Freiem Markt sowie Individuum über die kollektive Seele und die Gewaltanwendung im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft und der Verwirklichung einer historischen Mission, sei es nun  einer Rasse, Nation oder gesellschaftlichen Klasse. Andererseits kann man aber auch dafürhalten, daß der Kommunismus auf geradezu paradoxe Weise beigetragen hat zur Konsolidierung der  westlichen Welt , zur Überwindung partikularistischer Tendenzen, zur Festigung der liberalen Ordnung in Politik und Gesellschaft, zum wirtschaftlichen Wachstum und schließlich zu der Überzeugung, daß es für all das keine Alternative gebe; in weiterer Folge kann man annehmen, daß der Fall des Kommunismus, unabhängig von der  so und so bestehenden ideologischen Krise des Liberalismus, die bestehende Ordnung erschütterte und einige ihrer Elemente ins Wanken brachte.

         Der Zusammenbruch des Kommunismus setzte in den bisher von ihm beherrschten Ländern Nationalismus und ethisch bestimmte Identitäten frei. Doch auch in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten erweisen sich - wie der bekannte britische Philosoph John Gray [2] bemerkt - nationale bzw. rassistische Emotionen als stärker gegenüber der Identifikation mit den allgemeingehaltenen, abstrakten Prinzipien des Liberalismus. Das alte, zweipolige, von ideologischer, wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation geprägte System der internationalen Beziehungen werde nicht von einer globalen Freihandelszone ersetzt. Vielmehr werde sich sukzessive ein dreipoliges System (Amerika, Europa, Japan) herausbilden, das nach protektionistischen und merkantilistischen Prinzipien funktionieren wird, wobei die Politik dem jeweiligen nationalen Interesse im Kontext der neuen Blöcke untergeordnet sein wird. Die Beständigkeit der liberalen Ordnung ist, wie Gray meint, durch den Charakter einiger wirtschaftlicher und politischer Prozesse in der westlichen Welt in Frage gestellt worden. Diese Prozesse waren in ihrem Charakter häufig weit von ihren liberalen Vorbildern aus den Lehrbüchern entfernt. Unter den neuen Bedingungen, nach der Niederlage des Kommunismus, werden einige dieser Tendenzen noch eine Verstärkung erfahren.

         Und letztlich fehlt es vor allem in Polen nicht an Theoretikern, Publizisten und Politikern, die den Fall des Kommunismus und das Verschwinden seiner Überreste als Revolution interpretieren. Durch ihren unblutigen Verlauf soll sie sich von der Französischen Revolution unterscheiden, obwohl sie ebenso wie die Vorgängerin vor 200 Jahren ihre Kindern frißt. Man vergleicht sie daher mit der Amerikanischen Revolution, denn deren Ziel war die Befreiung von der Fremdherrschaft, der Aufbau einer demokratischen Republik, der Schutz der Volkswirtschaft sowie der individuellen und politischen Freiheiten.

         In der Selbstzerstörung des kommunistischen und in der Krise des Wohlfahrtsstaates sehen einige Autoren auch die Möglichkeit einer Rückkehr zu Verhältnissen des Mittelalters (retromedievalism) und zu dessen Bürgergesellschaft mit ihren vermittelnden Institutionen (Prinzip derSubsidiarität) bei begrenzter Rolle des Staates. [3]

         Das landläufige Bewußtsein gibt sich in noch größerem Maße der Überzeugungskraft eher eingebildeter als tatsächlich bestehender Ähnlichkeiten hin und begnügt sich mit der Formel: alles wiederholt sich, alles war schon einmal da. Ohne jeden Konflikt besteht daneben die Überzeugung, daß historische Veränderungen unausbleiblich sind und niemand zur Vergangenheit zurückzukehren vermag. Gleichzeitig behaupten sich also zwei voneinander stark abweichende, jedoch gleichermaßen tief verwurzelte Arten, die Gegenwart zu interpretieren, die mit einer zirkulären und einer linearen Sichtweise auf die Vergangenheit verbunden sind. Die zirkuläre Interpretation erwächst aus unserer Existenz, die zwar von kurzer Dauer, aber dank unserer Vorfahren und Nachkommen wiederholbar ist. Sie verbindet sich auch mit den Formen des religiösen Lebens, vor allem mit der Ordnung des liturgischen Jahres, das ohne Rücksicht auf äußere Umstände die Zeit des Sakralen, der Familie und der lokalen Gesellschaft mißt, und mit den Wiederholungen des weltlichen Rituals. Die lineare Interpretation wiederum wird durch die historische Überlieferung und ein wenn auch unklare Wissen über die Geschichte gestaltet, das es erlaubt, in ihr einen Sinn zu erblicken: Beginn und Ende. Aus alldem setzt sich die spontane, untheoretische, unintellektuelle und gefühlsmäßige Historiosophie zusammen, in der sich zirkuläre und lineare Auffassung der Gegenwart und Vergangenheit mischen und in sich Aspekte miteinander verbinden, die wiederum sich gegenseitig durchdringen: Existenz und Geschichte, Sakrales und Weltliches.

         Die spontane Historiosophie ist demnach ein heterogenes Gebilde. Sie nährt sich zu gleichen Teilen von uralten und neueren Mythen, Überzeugungen und Geisteshaltungen sowie von Ideen, die am Urbeginn der Gesellschaft geformt, später von den großen religiösen Systemen, der literarischen Tradition und teilweise auch den Geschichtswissenschaften modifiziert wurden und im Laufe der neueren und allerneuesten Geschichte große Verbreitung fanden. Man kann in dieser Historiosophie Reste des antiken Verhältnisses zur Geschichte und des christlichen Geschichtsverständnisses erkennen.

         Die theoretischen, soziologischen oder historischen Reflexionen über den Lauf der Geschichte, mit denen wir zur Erkenntnis jener Ereignisse gelangen könnten, die allgemein als Fall des Kommunismus bezeichnet werden, sind das Eine. Das Andere, nicht weniger Wichtige ist, sich zu vergegenwärtigen, welchen Einfluß die nationale Mythologie, aber auch unartikulierte Vorurteile über die soziale Welt und die Geschichte auf die Einstellungen - anpasserische oder aufrührerische - gegenüber dem Kommunismus als Ideologie und seinen öffentlichen Institutionen ausübte. Denn nicht so sehr die Geschichtsphilosophie, die die Geschichte und die Zeitläufte des Umbruchs von außen analysiert (auch nicht der dem gesellschaftlichen Leben einverleibte Marxismus), als die spontane, mit der Geschichte der Gesellschaften verwachsene Historiosophie ist eine der maßgeblichen Triebkräfte dieser Geschichte. Wird sie intellektuell aufgegriffen, so gestattet sie die Annäherung an ein Verständnis dieser Triebkräfte.

         Es ist zwar durchaus möglich, eine quasihegelianische Perspektive einzunehmen und mit Francis Fukujama das Ende der Geschichte zu verkünden. Damit erkennte man an, daß die Menschheit, wenn auch nicht mit einem Mal, so doch unausweichlich zu der immer deutlicheren Einsicht gelange, daß das liberal-demokratische politische System und die Marktwirtschaft - aus der Perspektive der vorangegangenen Phasen der Geschichte und der angesammelten Erfahrungen - den optimalen Zustand einer Gesellschaft darstellten. [4] Man muß jedoch der Feststellung von Mark Lilla zustimmen, daß Fukujama die gesamte Problematik stark verflacht hat, denn im Grunde läßt sich seine Aussage auf ein banales es mußte ja so kommen zurückführen, das er auf prätentiöse Weise als das Ende des geschichtlichen Zyklus vorstellt. [5] Die Bezugnahme auf Hegel und seinen historischen Determinismus geben Fukujamas These nur den Anschein, als handelte es sich um einen historiosophischen Standpunkt; sie ist aber in Wirklichkeit keineswegs an ihrem Vorbild ausgerichtet. Aus dem Gesichtsfeld des Autors von The End of the History ist, obwohl er den Triumph der liberalen Idee verkündet, der für Hegel so wichtige subjektive Faktor der Geschichte verschwunden: die Ideen der Menschen, ihre Tabus, Überzeugungen, Leidenschaften, Sitten und Handlungen, deren Form und Inhalt über das Absterben und schließlich den Zerfall des Kommunismus entschieden haben. Hier fehlt in gewisser Weise auch die gesunde Skepsis, die die einfachen Menschen und zumindest einige Intellektuelle aus der Geschichte schöpfen. Selbstverständlich täuscht sich Fukujama nicht darin, daß das Ende des Kommunismus zugleich das Ende von Konflikten und Kriegen ist, aber er macht aus der liberalen Konzeption des Menschen, der  Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik sogleich  das unzweifelhafte Resultat eines langen Prozesses von Versuchen und Irrtümern, also letztendlich das Ziel der Geschichte. Wenn diese Verwirklichung des endgültigen Zieles und Sinnes der Geschichte nicht überall eingetreten ist, so deshalb, weil ihm entweder Irrationalität und Unwissen über die menschliche Natur dazwischengekommen ist (man ist veralteten Konzeptionen des Menschen und der Politik erlegen, hat sich religiösen, nationalen oder gesellschaftlichen Traditionen und Mythen hingegeben) oder aber schlichte Gewaltanwendung.

         Was in diesem oberflächlichen Hegelianismus fehlt, ist die Erfahrung Europas und anderer Regionen der Welt, wo wirtschaftliche und individuelle Freiheit von einer mit Gewalt aufgezwungenen Ordnung abhängig war. Sie ging unter, sobald das Gleichgewicht in der Region bzw. auf dem Kontinent erschüttert wurde, um wiederaufzuerstehen, sobald eine neue Legalität mit Gewalt erzwungen wurde. Die Unbeständigkeit des Friedens und des wirtschaftlichen Wohlstandes ist ein wesentliches Element der geschichtlichen Erfahrung Europas, vor allem in den mittleren und östlichen Regionen, und zugleich die Grundlage der skeptischen Einstellung gegenüber der Dauerhaftigkeit irgendeiner politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ordnung, so auch der totalitären.

         Sollte daher die Suche nach den Ursachen der großen gesellschaftlichen Wandlungen zu der Schlußfolgerung führen, daß die Geschichte uns vor uns selbst schützte, daß Dummheit und Verantwortungslosigkeit in jedem Fall belohnt würden, daß der geschichtliche Prozeß die Sphäre irdischer, immerwährender Vergebung der Sünden und unbegrenzter Barmherzigkeit wäre, so dürften wir nicht verhehlen, daß der Gegenstand unseres Glaubens, unserer Hoffung und unserer Verehrung die Geschichte selbst ist, also in letzter Konsequenz wir selbst. Der Triumph des Liberalismus über den Kommunismus wäre dann gleichbedeutend mit dem Sturz des falschen und der Bereitung des Altars für den Wahren Gott, den wir im Verlauf der Geschichte gesucht und an ihrem Ende gefunden hätten. Eine solche Interpretation des Welterfolgs der liberalen Modelle gesellschaftlichen Lebens sündigt durch einen naiven Optimismus hinsichtlich ihrer Wirkungskraft, der sich mit einem kaum gerechtfertigten Glauben verbindet - entweder an den unzeitgemäßen,  mechanistischen historischen Determinismus des 19. Jahrhunderts oder an eine veraltete Variante von Evolutionismus, der sich auf Vorstellungen von sich selbst perfektionierenden Mechanismen stützt. In beiden Fällen wird der Idee und Praxis des Liberalismus ein Bärendienst erwiesen.

 

Quellen der Dynamik des Kommunismus: Internationalismus und die nationale Frage

 

         In letzter Zeit wird häufig die Ansicht laut, der Kommunismus habe wie ein riesiger Gletscher die Gesellschaften jenes Teiles Europas und der Welt, in dem sich Polen befindet, eingefroren und konserviert. Die in ihrer Entwicklung aufgehaltenen Gesellschaften müßten nun gewissermaßen in beschleunigtem Tempo durchleben, was im Westen schon längst beendet ist, sie müßten durch den Nationalismus hindurch, um ihn sattzubekommen und aufzugeben, müßten zur Religion zurückkehren beziehungsweise noch eine gewisse Zeit lang bei ihr verweilen, um sie dann links liegenzulassen, müßten den elementaren Gewalten des freien Marktes unterliegen, seine Wohltaten und Unbilden kennenlernen, um ihn dann einer rationalen Kontrolle zu unterwerfen. Die voreiszeitlichen Kreaturen seien verurteilt, die noch fehlenden Phasen der Evolution zu durchlaufen. Betrachtet man unsere gesellschaftliche Wandlung aus einer solchen Perspektive, so kann sie eigentlich nur durch äußere Faktoren hervorgerufen sein; die kommunistische Gesellschaft sei schließlich zu Veränderungen aus sich selbst heraus nicht in der Lage gewesen. Somit sei es die äußere Umgebung, die die Veränderung erzwungen habe. Somit habe die westliche Zivilisation, vor allem aber die rationale Politik des Westens, den Gletscher abgeschmolzen. Die Geschichte habe sich im Westen abgespielt, im Osten nur ihren Lauf angehalten, nun aber, aus der Umklammerung des Eises befreit, beschleunige sie sich, erlange Stück für Stück wieder Gleichgewicht und trage Disproportionen ab.

         Shlomo Avineri stellt sich einer solchen Vision einer  leblosen, statischen  Welt entgegen. [6] Die kommunistische Gesellschaft, argumentiert er, sei ein Totalitarismus mit einem inneren Mechanismus der Veränderung, der wirksam werden mußte, auch wenn der Westen das erst jetzt verstehen gelernt hat. Dieser Mechanismus bestehe aus den Spannungen und Widersprüchen, wie sie zwischen den Versprechungen des Kommunismus und seiner Wirklichkeit bestehen, zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Maß und dem, was jeder selbst messen kann. Die Gesellschaften des rechten Totalitarismus erwiesen sich vor diesem Hintergrund als kohärent: die Ideologie ist in ihnen ident mit der Praxis. Die kommunistische Ordnung sei auf Hypokrisie aufgebaut, der Nationalsozialismus oder der italienische Faschismus seien aufrichtig. Das Regime der Hypokrisie sei uneffektiv, das Regime der Aufrichtigkeit die Verkörperung der Wirksamkeit. Die Kontrolle über die Gesellschaften werde im Kommunismus immer schwächer: es bestehe in ihm die Möglichkeit von Veränderung und langsamen Reformen. Das nationalsozialistische Regime übe eine wirksame Kontrolle aus, verändere sich nicht und könne nur von außen zerstört werden.

         Avineris Sichtweise steht im Kontext von eher praktisch-politischen als streng wissenschaftlichen Diskussionen über autoritäre und totalitäre Systeme und den Standpunkt, den das amerikanische Außenministerium diesbezüglich einnehmen sollte. Seine Perspektive erscheint nur in begrenztem Ausmaß als geeignet, die in Ost- und Mitteleuropa vor sich gehenden Veränderungen zu verstehen. In diesem Fall drängt eine überaus gründliche Hegelkenntnis den Autor in ein mechanisches Schema. Die ineffektive und oberflächliche Kontrolle des Kommunismus über die Gesellschaft habe, behauptet Avineri, nicht nur das Wiederaufleben von Ideologien und Strukturen aus der Zeit vor dem Kommunismus [7] bewirkt, sondern sogar ihre Stärkung. Die Motive dieser ineffektiven Kontrolle seien die Mißachtung der nationalen Frage und der kulturellen Autonomie durch die kommunistische Ideologie gewesen sowie die Überzeugung, die nationalen Identifikationen stürben von selbst ab.

         Man kann kaum der These widersprechen, daß die kommunistischen Regime viel versprachen und nichts hielten, daß sie überwacht, aber nicht kontrolliert haben (was zumindest auf einige zutrifft). Im Kern geht es aber um etwas anderes. Nicht so sehr die Spannung zwischen der ideologischen Verheißung und der Wirklichkeit, zwischen der postulierten un der realen Welt war die Ursache des Zerfalls des Kommunismus. Vielmehr ist sie eingetreten infolge der sinkenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Unfähigkeit, die Bedürfnisse und Erwartungen zu erfüllen, die die Institutionen der sozialen Sicherheit hervorriefen (Vollbeschäftigung, soziale und medizinische Betreuung). Die Hypothese Avineris gibt jedenfalls keine Antwort auf die Frage, warum wiederauflebt, was vorher einmal war, warum sich die nationale Kultur und Identität nicht durch einen internationalen Universalismus ersetzen ließ und nicht an den Rand gedrängt wurde, um national in der Form, aber sozialistisch im Inhalt zu sein.

         Ganz entgegen der These Avineris spielte die nationale Frage eine sehr wesentliche Rolle in der Ideologie und Praxis des Kommunismus. Nicht auf die Texte Marxens und des traditionellen Marxismus sollte man sich hier beziehen, sondern auf die Direktiven der Parteitage, die Beschlüsse der Zentralkomitees, die Verfahrensweisen der Kulturabteilungen der Parteikomitees, die Zensurrichtlinien usw. Leszek Ko³akowski verweist mit Recht auf den romantischen Charakter der sozialistischen Bewegungen. Der romatische Sozialismus hat sich in Wirklichkeit mehr auf das Goldene Zeitalter, den Zustand einer auf Solidarität und Selbstlosigkeit aufgebauten Gesellschaft, konzentriert als auf eine wenn auch mit Hochachtung behandelte Tradition. Gleichzeitig hat ihn aber sein antiliberaler Charakter zu einer paternalistischen Sorge um die nationale Tradition bewegt, die er in betrachtlichem Ausmaß - gemäß dem romantischen Muster - mit dem gesunden und unverfälschlichen Volkscharakter identifizierte. [8]

         Auf die Periode der revolutionären Kraftentwicklung folgt die Phase der Routinierung des Totalitarismus, seiner Zivilisierung und Korrumpierung. Die Prinzipien der Realpolitik [9] lauteten: Abhängigkeit von Moskau und gleichzeitiges Streben nach einem Stückchen Autonomie für die Obrigkeit in der Provinz; Behinderung eines unabhängigen Nationalinteresses, aber ebenso Neigung zur Übernahme und Bereicherung sogenannter 'fortschrittlicher' Traditionen der Weltkultur; die Förderung des Ansehens der niederen Sphären der Kultur, damit sie gemeinsam mit der Hochkultur eine neue, gesunde Qualität schaffen. Darauf baute sich das staatliche Mäzenat und das Ideal einer allgemeinen, staatlich kontrolierten Erziehung auf. Auf diesem Weg gelangte man zu jenem seltsamen Zustand der gleichzeitigen Unterstützung und Bevormundung der Kultur, zur sogenannten Kulturpolitik. Diese Unterordnung der Kultur unter die Politik war gleichermaßen gekennzeichnet durch eine instrumentale, manchmal polizeiartige Einstellung der Macht gegenüber den Kulturschaffenden wie auch durch den Bezug auf die Utopie und den daraus folgenden Glauben an eine Mission.

         Unter diesen Bedingungen war es um eine wirklich effektive Kontrolle schlecht bestellt, obwohl freilich diese Kontrolle in verschiedenen kommunistischen Ländern zu verschiedenen Zeiten, vielfach in Wellen verlaufend, sehr streng war. Die Kulturpolitik war letzten Endes unfähig, Veränderungen in den kommunistischen Gesellschaften zu verhindern. Sie schuf vielmehr teilweise die Möglichkeiten dafür, indem sie große und kleine, unabhängige und anpasserische Künstler freigiebig unterstützte und indem sie sich ideologisch, vor allem aber pragmatisch auf nationale Symbole, uralte Ressentiments und nationale Komplexe berief, um ein gewisses Quentchen Legitimation zu erlangen. Mit Sicherheit war in Polen die Spezifik und Stärke der nationalen Tradition der Grund dafür, daß die Lockerung der ideologischen und administrativen Kontrolle der verschiedenen Sphären der nationalen Kultur sowie der Ausbau des staatlichen Mäzenatentum die Entwicklung einer von den spontanen, einfachen Prämissen der revolutionären Ideologie entfernten Kultur stimulierten.

         Wenn man sich der Untersuchung der kommunistischen Regimes von der Seite ihrer Machtstrukturen und der ihre aktuelle Politik motivierenden ideologischen Strukturen zuwendet, so kann man mit einiger Sicherheit feststellen, daß sich unter solchen Bedingungen ein gesellschaftlicher Wandel vollziehen kann, selbst wenn er in einigen Fällen gebremst wurde.

 

 

Die Struktur der spontanen Historiosophie

 

Im Leben der Gesellschaft, wo die Anpassung an die herrschenden Bedingungen eine allgemeine Bestrebung ist, bestand der Faktor, der Veränderungen erzwang, nicht so sehr in den Versprechungen als in der Wirklichkeit, die Erwartungen hervorrief und Ansprüche weckte, und auch in einer zweideutigen Ermunterung {AN DIE INTELLEKTUELLEN], die Kultur weiterzuentwickeln. Diese Ermunterung war zweideutig, denn sie barg sowohl Kontrolle als auch ein gewisses Quantum Freiheit, also eine Konzession. Weder verharrten unter diesen Bedingungen die intellektuelle und die künstlerische Kultur, aber auch das Denken des einfachen Volkes, die Pflege von Brauchtum und Religion einfach in der vor einigen Jahrzehnten erstarrten Form, noch entwickelten sie sich vollkommen frei. Zugleich hat jedoch der Umstand einer - mehr oder weniger - effektiven Kontrolle in keiner Weise gehindert, sondern sogar dazu beigetragen, daß sich das mythische Denken und die damit eng verbundene mythologisierte Vision der lokalen und globalen Geschichte erhalten gefestigt hat.

         Was findet nun Eingang in jene spontane, mythologische und praktische Historiosophie? Sie hat eine dipolare Struktur. Um den einen Pol konzentriert sich, was einen stetigen, sich wiederholenden und rhythmischen Charakter hat: das Denken und Handeln, das dem Ritual und dem Brauch, sowohl dem weltlichen wie auch dem religiösen, unterworfen ist. Die Wiederholbarkeit vermittelt den Eindruck von einem Leben außer der Zeit und ruft das Gefühl von Stabilität und Verwurzeltsein hervor. Sie ist das stärkste Fundament eines skeptischen Verhältnisses zur vergänglichen Welt, zur Geschichte, vor allem zur politischen Geschichte, und zu dem angeblichen Sinn, den der Kommunismus in der Geschichte zu erkennen gestattet [10] . Die Geschichte, ungeachtet dessen, das sie in einer auf ideologische Weise errichteten Welt dem Menschen unterworfen ist, spielt sich in Wirklichkeit rund um uns herum ab, ganz ohne unser Zutun.

         Hier befindet sich unter anderem die Ursache dafür, daß sich revolutionärer Enthusiasmus erschöpft: die erdachte Wirklichkeit und die geschaffene Geschichte erweisen sich als Illusion. Was wirklich handgreiflich real ist, daran hat man Anteil, übereinstimmend mit den vorgefundenen Regeln und daher auf verständliche Weise. Nach einem vollkommen neu zurechtgelegten Plan zu bauen erweist sich als sinnlos. Der Mangel an Zufriedenheit und mitunter das Leid eines kontrollierten Lebens wird vom Brauch, vom Rhythmus des familiären und religiösen, beruflichen und lokalen Lebens gemildert und relativiert.

         Am zweiten Pol findet sich das enthusiastische, leidenschaftliche Verhältnis der Polen zur Geschichte. Die historische Zeit hat eine Richtung und ein Ziel, aber die Vergangenheit ist im Heute ständig anwesend, denn - so stellt man es sich vor - das Treffen Boles³aws und Ottos und die Schlacht bei Grunwald haben bis heute ihre Wirkung. Ihre Erwähnung in den Fernsehnachrichten würde keine sehr große Verwunderung hervorrufen.

         Aus nationaler Perspektive gesehen ist die Geschichte das Feld unserer früheren Siege und aktuellen Niederlagen. Sie scheint weiter keinen Sinn zu haben, da sie ja nicht mit Erfolgen verbunden ist. Doch stärkt die pessimistische Aussage unserer nationalen Geschichte jene Hoffnung, die die Kehrseite der Niederlage ist. Diese Hoffnung zeigt sich in der Erwartung, daß die Geschichte letzten Endes etwas Positives bringen möge, selbst wenn es ein unbeständiges Geschenk würde: einen Sieg, die Wiedererringung der Unabhängigkeit, einen wirtschaftlichen Erfolg, die Gerechtigkeit und Ausgleich wiederherstellen werden. Der Mißerfolg ist freilich etwasvon außen Kommendes, das sich ohne schuldhaftes Zutun der Polen einfach ereignet. Ihnen bleibt angesichts der Mißerfolge nur die hartnäckige Wiederholung ihrer Anstrengungen.

         Möglicherweise denkt noch der eine oder andere an Polen als den für die anderen leidenden Christus der Nationen. Die Vision vom auferstehenden Polen ist jedoch bedeutend lebendiger.

         Pawe³ K³oczowski hat mich auf das charakteristische Fragment der Ansprache des Papstes an die Kulturschaffenden während seiner Reise nach Polen im Jahre 1991 aufmerksam gemacht, in dem der Papst vom wiederauferstandenen Polen spricht. Der Papst verleiht dem polnischen Denken und Fühlen sehr genauen Ausdruck.

         In der Zeitung der Krakauer Jugendseelsorge List do przyjació³ (Brief an Freunde) vom November 1991 findet sich das nachstehende Gedicht von Gra¿yna Grygiel. Es ist ein interessantes zeitgenössisches Beispiel für eine historiosophische Interpretation der Geschichte Polens, die sich der neutestamentarischen Symbolik auf eine romantische und zugleich auf jene volkstümliche Weise bedient, die die Situation Polens unmittelbar mit den Gestalten und Situationen des Evangeliums verbindet.

 

                                               POLEN

 

Wenn sich hinter dem Fenster des Autobusses die Stationen des polnischen Kreuzweges entlangschieben...

 

Polen, das bin ich.

Polen, das bist Du.

Polen, das ist er, das ist dieser und der dort und ein anderer noch.

Polen, das ist das Kreuz, an dem Christus mit ausgebreiteten Gliedern hängt.

Polen, das ist Maria, bedeckt vom weiß-schwarzen Trauerkleid.

Polen, das ist Judas, der seine Silberlinge in der Hand drückt.

Polen, das ist Petrus, der dreimal nein spricht.

Polen, das ist Pilatus, der seine Hände wäscht, und Herodes, der sich um die eigene Haut fürchtet.

Polen, das ist Josef, der für die Familie sorgt.

Polen, das ist der verträumte Schöngeist Johannes.

Polen, das ist die Tochter Jairus`, die aus dem Schlaf geholt wurde.

Polen, das sind Mathäus und Maria Magdalena.

Polen, das ist Lazarus, der wieder zum Leben erweckt wurde.

Polen, das sind Veronika mit dem blutigen Tuch und Simon, gebeugt unter die Schwere des Balkens.

Polen, das sind verzweifelt schluchzende Frauen.

Polen, das ist Betlehem und Golgatha.

Im Alltag Polens wiederholt sich wie ein Refrain das Wunder vom Kana in Galiläa

Im Alltag Polens fehlt weder die Schädelstätte, noch die Krippe von Betlehem, noch das leere Grab...

Polen, wie tragisch Du doch bist in Deinem Reichtum...

Und trotz allem - wie schön und einfach.

 

         Zwei Momente schieben sich hier in den Vordergrund: die Wiederholbarkeit historischer Situationen und ihre metahistorische, transzendente Dimension. Das, was in Polen geschieht, wo es um die verschiedenen Arten moralischer Haltungen der Menschen in einem konkreten geschichtlichen Moment geht, hat sein Urbild in der historischen Dimension Palästinas zur Zeit Christi und Herodes`. In diesem Sinne ist die polnische Geschichte die Wiederholung von etwas, das sich schon ereignet hat. Gleichzeitig nimmt die Situation Polens aufgrund der Ungewöhnlichkeit solcher historischen Fälle, in denen ein transzendenter Faktor unmittelbar an den Zeitläuften der menschlichen Welt beteiligt ist, ein metahistorisches, von der Zeit unabhängiges und sakrales - daher außergewöhnliches - Ausmaß an, sobald sie auf jene Fälle bezogen, mit ihnen verglichen und gleichgesetzt wird. Beachtenswert ist die Anwesenheit der romantischen Metapher vom Leid Christi, die dem Schicksal Polens und seiner Menschen Ausdruck und Erklärung verleihen soll. Nicht weniger wichtig ist hier die Einführung von Metaphern, die die historiosophische Interpretation des Schicksals Polens erweitern und bereichern, indem sie andere Gestalten des Neuen Testaments zum Vergleich heranziehen.

         Im heutigen Bewußtsein der Bevölkerung macht sich nicht so sehr der Sinn für eine soteriologische Mission bemerkbar als eine Genugtuung über den wirksamen Widerstand gegen den Kommunismus und über dessen Sturz, in der letzten Zeit aber auch über die Schaffung der Grundlagen für Demokratie und Kapitalismus. Dieses Bild kann auch die allgemeine Neigung, Erfolg auf sehr billige Weise zu erzielen, und die erklärte Unzufriedenheit über den Mangel an Perspektiven nicht verändern, denn das konkrete Verhalten der Menschen zeugt von einer recht geschickten Anpassung an die neuen Bedingungen und Möglichkeiten.

Nicht so sehr das Leiden ist jetzt die Quelle für das Gefühl der Polen, eine Ausnahme zu sein, als ihr Mut und ihre Risikobereitschaft, mit denen sie sich zu außergewöhnlichen Taten aufraffen, die bisher noch niemand vollbracht hat. Dies ist eine wesentliche Veränderung im Bewußtsein der Bevölkerung, ein Beleg für die Chance, endlich die Haltung der Duldenden und Leidenden loszuwerden, die uns seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verfolgt. Diese Veränderung gesellt sich wiederum zu der uralten Figur des Polen als Ritter.

         Das leidenschaftliche Verhältnis zur Geschichte konnte sowohl Quelle der Ablehnung für die Ideologie und Politik des Kommunismus sein als auch bewirken, daß diese zumindest zeitweise akzeptiert wurden, und zwar aufgrund des Zusammenspiels der messianistischen Inhalte mit dem Willen, das Fatum der nationalen Niederlagen zu überwinden.

         Die zweipolige Struktur des landläufigen historiosophischen Bewußtseins besitzt, gleichwohl sie zwei Arten der inneren Haltung gegenüber dem Kommunismus erklärt, nämlich den passiven und den aktiven Widerstand, noch ein drittes Element, das die Kohärenz dieses Bewußtseins garantiert und jene innere Spannung überwindet: die religiöse Interpretation der Nationalgeschichte.

         Wann immer sich anläßlich eines historischen Umbruchs das Leiden und die Anstrengungen der Individuen und der ganzen Nation als vergeblich erweisen, verliert die Geschichte ihren Sinn. Ritual und Bräuche können dem nur innerhalb gewisser Grenzen entgegenwirken. In diesem Moment kommt den Menschen die Idee von einem göttlichem Plan zu Hilfe, der auf unseren lokalen, irdischen Gebrauch zugeschnitten ist. Regelmäßig nach einer gewissen Zeit wird der Sinn der Geschichte, der uns entflieht, durch die in ihrer Selbstsicherheit naive Überzeugung wiederhergestellt, daß Jemand über all dem wacht.

         Das polnische Denken über die eigene Geschichte hat unter religiöser Perspektive einen sehr interessanten Zug, auf den des öfteren hingewiesen wird: unsicher, ob der Herrgott persönlich genügend Zeit und Geduld für die Polen habe, ziehen sie es vor, sich an die FRau, die Muttergottes, zu wenden, denn die ist weicher und auch verständnisvoller [11] . Nicht ohne Grund hat Stanis³aw Lem, dem eine besondere religiöse Empfindsamkeit kaum zuzutrauen ist, vor dem Dezember 1981 [12] gesagt, daß uns nur die Jungfrau von Czêstochowa aus der Repression erretten kann. Sollte es nur ein Scherz sein - oder die synthetische Ausformulierung einer allgemeinen Empfindung -, daß uns angesichts der Ohnmacht des Verstandes in gewissen geschichtlichen Situationen, derer wir trotz aller Ambitionen nicht Herr zu werden vermögen, immer noch die göttliche Vorsehung bleibt, zu der wir einen privilegierten Zugang haben, da schließlich die Mutter und Königin der Nation, zu gewissen Zeiten aber auch der Statthalter Christi Fürbitte für uns einlegen? [13] Dieser naive, nicht einmal gut artikulierte, aber immerhin keineswegs von den Positionen der Kirchenväter abweichende Glaube an einen letzten, wenn auch für uns verborgenen Sinn und an die Gerechtigkeit der Geschichte bewirkt, daß sich Hoffnungen nicht in der Geschichte selbst ansiedeln, sondern sich auf Gott richten, der den Lauf der Geschichte steuert. Dieser historische Finalismus stellt ein sehr wirksames Gegengewicht zum historischen Determinismus dar. Er ist schließlich auch die Ursache der Distanz gegenüber den Mäandern der Geschichte.  Die matriarchalisch-monarchische Vision vom Beziehungsgeflecht zwischen der Nation und jedem ihrer Angehörigen sowie der Transzendenz ist die Quelle eines Gefühls von Gewißheit und Sicherheit. Das Spiel mit der Geschichte findet unter dem wachsamen Auge der Beschützerin statt, wobei die Regeln und Ergebnisse des Spiels beim Höchsten Richter korrigiert werden können.

         Eine solche Weise des Denkens und, noch wichtiger, des Sich-Beziehens auf Verlauf und Ziel der Geschichte bringt auf längere Sicht unvorhersehbare Folgen mit sich. Aus einer gewissen Perspektive werden diese Folgen wohl als von einem vollends sakralisierten und mythologisierten Bewußtsein determinierte angesehen. Das Verbleiben bei der mythologisierten Geschichte, jener Historiosophie der kleinen Leute, war einer der wichtigen Gründe dafür, daß der Kommunismus in Ideologie wie Praxis abgelehnt und letztlich abgeschüttelt würde. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass ein solches Verharren dem Intellektuellen tadelnswert ist. Außer der direkt auf die Zerstörung des Kommunismus ausgerichteten Aktivitäten hat auch die mit Sinn für das wirklich Wichtige und Schätzenswerte kultivierte Sittlichkeit ihre Wirksamkeit erwiesen. Stellt doch die Nützlichkeit eine Funktion dessen dar, was auf den ersten Blick keinerlei instrumentalen Charakter  hat.

Letzten Endes ist nicht der hypostasierte geschichtliche Prozeß die Ursache für den Zerfall des Kommunismus, sondern das hier beschriebene mythische und intime Verhältnis der Menschen ¿ur Geschichte als eine der Möglichkeiten, sich in die Geschichte einzumischen und auf ihren Verlauf Einfluß zu nehmen. Nicht nur Ideen, sondern auch Sittc, Brauch und Mythos bcstimmcn die Geschichte der Gesellschaften.

Die Historiosophie - ob nun akademische oder spontane - mochte der Gegenwart Sinn verleihen und siê interpretieren, indem siê die Anfange der Geschichte, die Muster historischer Veränderungen und das Ziel der Geschichte entziffert. Der Historizismus - ob nun in aufklärerischer oder romantischer, hegelscher Gestalt - hat Relativismus und Nihilismus hervorgebracht. Die Antwort auf den Nihilismus, konstatiert Leszek Ko³akowski in seiner oben erwähnten Skizze, ist ein Relativismus, der sich unter bestimmten Bedingungen gerne mit einigen liberalistischen Strömungen verbindet. Vielleicht hat, wie der Autor meint, eine neue Utopie, die die Vision einer vollkommenen Gesellschaft entwirft, keine Erfolgschancen. Doch angesichts des Verfalls der Kriterien für die Bewertung des gesellschaftlichen und politischen Lebens wachst das Bedürfnis nach erneuerter Verwurzelung in der nationalen Kultur und Mythologie und in der Zugehörigkeit zu einer lokalen Gemeinschaft [14] . Dieses Bedürfnis ist im übrigen kein Spezifikum der Gesellschaften, die den Kommunismus hinter sich haben.

In diesem Zusammenhang erhebt sich eine Frage, die die nächsten Jahre beantworten werden: Werden die postkommunistischen Gesellschaften, die wie eine Arche das national-religiöses Schema und die damit verbundene spontane Historiosophie in sich tragen und nunmehr versuchen, den zivilisierten, liberalen Westen einzuholen, werden siê nicht auf ihrem Weg gerade auf ihn treffen, wie er in der entgegengesetzten Richtung unterwegs ist, um seine nationalen Interessen und nationalen Mythen zu suchen? Dann vielleicht werden beide innehalten, überrascht ob dieses außergewöhnlichen Treffens.

 

 

 

 

Übersetzung: Steffen Huber



[1] In: Czy historia moze sie cofnaæ? Hrg. von Bronislaw Lagowski, Kraków: Secesja 1993, S. 9-25. 

[2] Vgl. das Gespräch von Beata Polanowska-Sygulska mit John Gray: Das Ende der liberalen Ära? (Koniec ery liberalizmu?) In: Znak, Nr. 444, Jahrgang 44, Kraków 1992, S. 104-116. In diesem Gespräch bezieht sich J. Gray auf  Thesen und Argumente seines neuen Buches Post-Liberalism. Studies in Political Thought, das in diesem Jahr (1991 - S.H.) im Verlag Routledge erschienen ist.

[3] Norman Cantor, Inventing the Middle Ages. In: William M. Klimon, Mediating Institutions. In: Religion & Liberty, May/June 1992, vol. no. 3, S. 7

[4] Francis Fukuyama, The End of History?, The National Interest, Summer 1989

[5] Mark Lilla, The End of Philosophy, Times Literary Supplement, 5. April 1991, S. 3

[6] Shlomo Avineri, Reflections on Eastern Europe, Partisan Review 1991, vol. LVIII, no. 3, S. 442-448.

[7] ebd. S. 445

[8] Leszek Kolakowski, The Demise of Historical Man, Partisan Review 1991, vol. LVIII, no. 3, S. 464.

[9] Deutsch im Original. Anm. d. Übersetzers.

[10] Dies stimmt mit der bekannten These Mircea Eliades überein, daß der moderne Mensch ähnlich wie der archaische trotz der Verbreitung rationalen, wissenschaftlichen Denkens und der kolossalen Entwicklung der technischen Zivilisation eine Neigung zu symbolischem und mythischem Denken und Handeln hat, das seine endgültige und existenzielle Situation enthüllt und ihm erlaubt, über die gegebene historische Situation hinauszugehen. Nationale Motive in der Mythologie sind selbstverständlich signum temporis. Vgl. beispielsweise M. Eliade, Sacrum, mit, historia (Sacrum, Mythos und Geschichte), Panstwowy Instytut Wydawniczy, Warszawa 1974, 2. Aufl., S. 31-46.

[11] Die Heterodoxität dieser Volkstheologie ist freilich nicht Gegenstand unserer Erörterungen.

[12] Anm. d. Üb.: D.h. vor der Ausrufung des Kriegszustandes und der Delegalisierung jedweder Opposition am 13.12.1981.

[13] Anm. d. Üb.: Gemeint sind die Gottesmutter, die oft als Königin Polens angesprochen wird, sowie Papst Johannes Paul II.

[14] Leszek Kolakowski, The Demise of Historical Man, op. cit., S.464.





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